Systemfehler der Gendersprache
Veröffentlicht am 23. 4. 2025, aktualisiert am 9. 5. 2025.
Deutsch sei eine ungerechte Sprache, eine „Männersprache“, sagte die führende feministische Linguistin Luise F. Pusch vor über vierzig Jahren. Der Grund sei das generische Maskulinum, das nach ihrer Meinung Frauen „unsichtbar“ mache, weil sie durch diese maskuline Form nicht genannt würden und daher bestenfalls „mitgemeint“ seien. Nach ihrer Ansicht bezeichnet das generische Maskulinum nur oder vorwiegend Männer, und deshalb müssten aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit Frauen auch explizit genannt werden.
Das wäre richtig, wenn die maskuline Form tatsächlich nur für die Bezeichnung biologisch männlicher Personen stünde. Doch das ist nicht der Fall. Auch Personen unbekannten biologischen Geschlechts werden mit der maskulinen Form angesprochen. In diesem Fall ist die maskuline Form kein „spezifisches“ (nur für biologisch männliche Personen stehendes), sondern ein generisches (für alle stehendes) Maskulinum.
Was vielen also an der maskulinen Form missfällt, ist genau diese Doppelbedeutung. Sie kann entweder für alle oder nur für männliche Personen stehen. Doch welcher Fall liegt im Einzelnen vor?
Die Entscheidung darüber ergibt sich aus dem Satzzusammenhang, und dabei hilft uns unser Sprachgefühl. Wir können ihm vertrauen, denn es hat uns bisher nie im Stich gelassen bei dieser Entscheidung. Wir können sicher sein, dass sich „Mieter“ oder „Lehrer“ in generalisierenden Aussagen („Mieter müssen mit Mieterhöhungen rechnen“ oder „es gibt zu wenig Lehrer“) nicht nur auf männliche Mieter oder Lehrer beziehen (generisches Maskulinum), im Gegensatz zu der Aussage „Mein Bruder ist Lehrer“, in der eine individuelle Person benannt wird (spezifisches Maskulinum). Wollen wir nur männliche Personen ansprechen, haben wir dazu die Möglichkeit: z. B. „männliche Mieter“.
Und weil das so ist, ist die Doppelfunktion der maskulinen Form kein Nachteil, sondern vielmehr ein Vorteil. Unsere Sprache kann sich diese Doppelbedeutung „leisten“, weil wir den Satzkontext als zusätzliches Unterscheidungskriterium haben. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, sowohl biologisch männliche Personen als auch Personen unbekannten Geschlechts mit nur einer Form zu adressieren, ohne dass Missverständnisse entstehen. Wir sparen uns dadurch eine Form. Sprachökonomie nennt man das.
Statt die Doppelbedeutung der maskulinen Form beizubehalten und als Vorteil zu nutzen, setzen die Macher von Gendern 2.0 auf eine neue Endung „-on“, die als eigene Benennung nur für biologisch männliche Personen reserviert sein soll. Ich sehe dies äußerst kritisch, denn damit bastelt man wie die Gendersprachler an der Sprache herum und übernimmt ihr Argument, die deutsche Sprache sei ungerecht und hätte Sanierungsbedarf.
Stattdessen möchte ich die Doppelbedeutung der maskulinen Form an einem analogen Beispiel erläutern, dem Begriff „Tag“. „Tag“ steht sowohl für den 24-Stunden-Tag als auch den „hellen“ Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Ergeben sich daraus Missverständnisse? Nein. In dem Satz: „Obwohl der Tag 24 Stunden hat, werden im Frühling die Tage länger“ wissen wir stets, welcher „Tag“ gemeint ist. Auch hier brauchen wir keine eigene Form für den „hellen“ Tag.
Übertragen auf Personenbezeichnungen würde der 24-Stunden-Tag dem generischen Maskulinum entsprechen und der „helle“ Tag dem spezifischen Maskulinum. Die Nacht, der „dunkle“ Tag, stünde für die feminine Personenbezeichnung.
Befürworter der Gendersprache stellen, wie wir wissen, die generische Funktion der maskulinen Form in Frage, und leiten daraus die Notwendigkeit ab, die Frauen explizit zu nennen. Dieser geforderten „gendersensiblen“ Formulierung würde in dem Tag-Nacht Beispiel eine „circadiansensible“ (circadiane Rhythmik = Tag/Nacht-Rhythmus) Formulierung entsprechen. Der Satz „die Woche hat sieben Tage“ müsste dann so lauten: „die Woche hat sieben Tage und (sieben) Nächte“. Damit würde man zwar die Nächte nicht nur „mitmeinen“, sondern auch mitnennen, um sie nicht „unsichtbar“ erscheinen zu lassen. Allerdings stünde der unnötigen Aufblähung des Satzes kein zusätzlicher Informationsgewinn gegenüber und wäre daher sprachökonomischer Unsinn.
Auch verlieren dadurch die „Tage“ ihre generische Bedeutung und werden ausschließlich zu „hellen“ Tagen, ebenso wie die „Schüler“ in „Schülerinnen und Schüler“, die nun nur noch biologisch männlich sind.
An den geschilderten Beispielen erkennt man den Kern der Gendersprache. Es ist die Verwendung bzw. Forderung einer spezifischen Benennung für jedes Geschlecht zum Nachteil bzw. unter Aufgabe eines generischen Ausdrucks oder geschlechterübergreifenden Sammelbegriffs. Dieses Fehlen bzw. die Ablehnung eines geschlechterübergreifenden Ausdrucks ist genau der Systemfehler und das Kardinalproblem der Gendersprache.
Welche Konsequenzen dies hat, soll nachfolgend im Hinblick auf einzelne Genderformen erläutert werden.
1.) Das Genus-Problem
Im Gegensatz zum generischen Maskulinum, also nur einem, dem maskulinen Genus, erfordert die Gendersprache, um nicht „alle“, so doch mindestens die beiden biologischen Geschlechter zu benennen, zwangsläufig zwei Genera, maskulin und feminin. Während diese Genera im Plural nicht in Erscheinung treten („die Mieter“), tun sie das im Singular sehr wohl („der Mieter“, „die Mieterin“).
Anders als bei spezifischen Personen, deren Geschlecht (Sexus) bekannt ist, treten bei allgemeingültigen Aussagen allerdings Probleme auf. Da unklar ist, welchen Sexus die Person hat, müssen beide möglichen Sexus berücksichtigt werden und damit auch beide Genera. Folglich müssen auch beide genannt werden. Das führt zu Aussagen wie diesen:
‚Kann mal eine*r eine*n Arzt / Ärztin rufen?‘ oder orthografisch korrekt (im Sinne des Rechtschreibrats): ‚Kann mal eine oder einer einen Arzt oder eine Ärztin rufen?‘ Entsprechendes gilt für:
‚Uns fehlt ein_e ausgewiesene_r Expert_e_in.‘ oder ‚Engagierte:r Mitarbeiter:in gesucht‘.
Wir haben hier (z. B. in „Mitarbeiter:in“) ein „Hybrid“-Substantiv, dem zwei Genera zugeordnet sind, die nicht etwa wahlweise, sondern gleichzeitig berücksichtigt werden müssen. Das Ergebnis sind obige nicht mehr sprech- oder lesbare Satzkonstruktionen. Selbst ohne Sonderzeichen bleibt das Dilemma, auch bei einer Einzelperson immer (mindestens) beide Geschlechter nennen zu müssen. Mit einem generischen Ausdruck, z. B. „Arzt“, taucht dieses Problem erst gar nicht auf. Das Deutsche ist nun einmal eine Genus-Sprache, anders als das Finnische oder das Türkische, und das soll auch so bleiben.
2.) Das Inklusionsproblem
Das Problem tritt sowohl im Singular als auch im Plural auf. Personen, die sich nicht in das binäre Geschlechterschema einordnen lassen (wollen), sollen sich durch Sonderzeichen, z. B. Sternchen, Doppelpunkt, Unterstrich etc. repräsentiert fühlen. Sie werden dadurch aber nicht mitgenannt, sondern nur symbolisch „mitgemeint“. Die Doppelnennung geht noch weiter: Bei ihr werden die nicht-binären Gendervarianten nicht einmal mehr erwähnt oder wenigstens symbolisch dargestellt. Genau das widerspricht dem Anspruch der Gendersprache, alle „Geschlechter“ durch Benennung „sichtbar“ zu machen. Welch eine Inkonsequenz. Was Gendersprachler dem generischen Maskulinum vorwerfen, wird hier wie selbstverständlich praktiziert. Einer non-binären Person wird durch die Doppelnennung permanent vor Augen geführt, dass sie nirgendwo richtig dazu gehört – wie „gendersensibel“ ist das denn?
Die sprachliche „Sichtbarmachung“ der Geschlechter und aller Varianten oder Zwischenformen wird die Gendersprache nie erreichen können, weil sie sich einem inkludierenden Sammelbegriff widersetzt. Diesen Sammelbegriff liefert nun einmal das generische Maskulinum, nicht weil es „alle Geschlechter mitmeint“, sondern weil es für keines, auch nicht das männliche steht.
3.) Das Problem der Komposita und anderer Wortbildungen
Ein im Kontext der Gendersprache häufig genanntes Beispiel dafür ist „Bürgermeister“. In letzter Konsequenz (einer Berücksichtigung beider Geschlechter) müssten stattdessen als „gendersensible“ Bezeichnungen „Bürgermeister“, „Bürgermeisterinnen“, „Bürgerinnenmeister“ und „Bürgerinnenmeisterinnen“ verwendet werden. Dass das in der Praxis komplett untauglich ist, liegt auf der Hand.
Die Lösung, die die Partei DIE GRÜNEN dafür bereithielt: „Bürger*meister*innen“. Auch hier tritt das unter 2.) beschriebene Problem des „Mitmeinens“ auf sowie das im Singular unlösbare Genus-Problem.
Auch Suffigierungen (Anhängen eines Suffix) sind davon betroffen: „Nachbarschaft“, „Christentum“, „Bäckerei“ Sie müssten z. B. unter Verwendung des Gendersterns konsequenterweise so lauten: „Nachbar*n*in*nen*schaft“, „Christ*en*in*nen*tum“, „Bäcker*in*nen*ei“.
Auch in Adjektiven taucht dieses konzeptionelle Problem auf: „ärztlich“, „freundlich“, „künstlerisch“, „gönnerhaft“ etc. Das Beispiel „benutzerfreundlich“ müsste eigentlich im oben beschriebenen Sinn lauten: „benutzer*in*nen*freund*in*nen*lich“.
Zur Ehrenrettung der GRÜNEN soll nicht verschwiegen werden, dass sie in ihrem Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2025 auf ein für nicht grüne Leser unerträgliches Maß an Gendersternen halbwegs verzichtet und „nur“ 259 Mal *in oder *innen verwendet haben gegenüber dem vorherigen Programm (536 Mal).
4.) Das Problem der inneren Satzlogik
Das Problem tritt meist in Vergleichen auf.
„War Angela Merkel die beste Kanzlerin der Bundesrepublik?“
Die Antwort darauf lautet immer „Ja“, denn sie war die bisher einzige Kanzlerin. Die Antwort ist somit wertlos.
„War Angela Merkel der beste Kanzler der Bundesrepublik?“
Auf diese Frage kann man auch andere Antworten als „Ja“ geben, denn jetzt ergibt die Frage einen Sinn, und zwar dank des generischen Maskulinums, das hier verwendet wird.
In der 20 Uhr Tageschau berichtete die Korrespondentin Sarah Schmidt, dass „Giorgia Meloni die erste europäische Staatschefin ist, die seit der Ankündigung und dann [dem] Aussetzen des gigantischen Zollpakets von Donald Trump wieder hier im Weißen Haus ist.“
Hier wird genau genommen nur gesagt, dass Frau Meloni die erste Frau unter den europäischen Staatschefs ist, die besucht. Ob ihr Besuch auch der erste insgesamt ist, bleibt offen.
„Annette Beck-Sickinger zählt zu den besten Chemikerinnen weltweit“ heißt es auf der Internetseite der Universität Leipzig. Was nach einem großen Lob klingt, kommt doch recht halbherzig daher. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass Frau Beck-Sickinger auch zu den besten Chemikern zählt, aber die obige Aussage gibt das nicht zwangsläufig her.
„Sind Frauen die besseren ‚Autofahrer‘?“ – oder lieber ‚Autofahrerinnen‘? Da Autofahrerinnen immer Frauen sind, wäre „Frauen sind die besseren Autofahrerinnen“ trivial, unlogisch und sinnlos. Der Satz ergibt nur mit ‚Autofahrer‘ (generisches Maskulinum) einen Sinn.
Ungeachtet dessen gibt es noch eine weitere Konsequenz: Wenn ohne generisches Maskulinum „Bürger“ nur männlich sind, dann kann in „männliche Bürger“ getrost auf das Adjektiv „männlich“ verzichtet werden, genauso wie bei einem „männlichen Kater“ oder „männlichen Hengst“. Dann gibt es allerdings auch keine weiblichen Bürger mehr, denn das wäre ein Widerspruch in sich.
Aber wie verhält es sich im folgenden Fall?
„Bürgerinnen und Bürger(1) und diversgeschlechtliche Bürger(2)“.
„Bürger(1)“ sind nur männliche Bürger (als generisches Maskulinum würden sonst die „Bürgerinnen“ doppelt genannt werden).
„Bürger(2)“ sind aber keine männlichen Bürger, da sie diversgeschlechtlich sind. Sie sind zwangsläufig generisches Maskulinum, ohne welches die Satzlogik in sich zusammenbrechen würde. Wenn man aber ohne generisches Maskulinum nicht auskommen kann, warum nicht es durchgängig verwenden.
Deutsch wäre um einiges ärmer ohne einen generischen Ausdruck, hier das generische Maskulinum.
5.) Das Problem der Sprachökonomie
Die Nennung beider biologischen Geschlechter („Bürgerinnen und Bürger“) im Vergleich zum generischen Maskulinum („Bürger“) ist kein inhaltlicher Zugewinn. Im Vertrauen auf unser Sprachgefühl können wir sicher sein, dass mit der Aussage „der Wähler hat das letzte Wort“ nicht nur ein einzelner Wähler gemeint ist, sondern die Gesamtheit der Wählerschaft, bestehend aus Männern und Frauen.
Das einzige, was durch die Doppelnennung erreicht wird, ist (neben möglicher Falschaussagen und einer Sexualisierung, s. unten) eine Aufblähung des Textes. Auch gegenderte Sätze wie ‚Kann mal eine*r eine*n Arzt / Ärztin rufen?‘ bzw. ‚Kann mal eine oder einer einen Arzt oder eine Ärztin rufen?‘ sind sprachökonomischer Sondermüll. Und da die Aufmerksamkeit auf das Verstehen des Satzes gelenkt wird, hat es die Kernbotschaft („Wir brauchen einen Arzt“) schwer, diesen Sprachmüll zu durchdringen.
6.) Die Gefahr einer Falschaussage
Dieses Problem tritt meist bei Doppelnennungen auf. Sie werden oft als Standard beim Benennen von Personen gewählt, quasi als „Voreinstellung“, meist allerdings als Floskel. Dabei wird selten überprüft, ob tatsächlich unter den Angesprochenen auch beide Geschlechter vertreten sind, und, da die Paarnennung meist im Plural steht, ob auch mindesten zwei Vertreter des jeweiligen Geschlecht vorhanden sind.
So meldete in einer ZDF-19-Uhr-Nachrichtensendung vom 15.10.2022 die Moderatorin Jana Pareigis: „Nach fast sechs Monaten auf der Internationalen Raumstation ISS ist ein Team aus Astronautinnen und Astronauten aus den USA und Italien zur Erde zurückgekehrt“. Hier handelt es sich nicht um mindestens zwei Männer und zwei Frauen, wie ich zuerst dachte und Sie vielleicht auch. Eine Nachprüfung ergab: drei Männer, eine Frau. Die Meldung ist genau genommen falsch.
In einem fiktiven Beispiel könnte eine Meldung folgendermaßen lauten: „Nach Aussagen von Zeuginnen und Zeugen handelte es sich bei dem Unfallverursacher um …“. Wenn die Doppelnennung den Sachverhalt korrekt wiedergibt, handelt es sich um mindestens vier Personen, die den Unfall beobachtet haben wollen, zwei männliche und zwei weibliche.
Doch stimmt das wirklich? Hat der Verfasser der Aussage, vielleicht ein Mitarbeiter einer lokalen Zeitung, tatsächlich überprüft, ob es sich um diese mindestens vier Personen gehandelt hat? Ich bezweifle das. Es könnten sogar nur männliche oder nur weibliche Zeugen gewesen sein. Vermutlich hat er die Doppelnennung gewählt, „weil man das so macht“ in Genderzeiten oder weil die Genderphilosophie seiner Zeitung dies vorgibt. Gendergerechte Formulierung hat hier höhere Priorität als wahrheitsgetreue Information.
Ähnlich dürfte es bei Übersetzungen sein. Englische „citizens“ werden fast standardmäßig mit „Bürgerinnen und Bürgern“ übersetzt. Man kann getrost davon ausgehen, dass der Übersetzer die Geschlechterverteilung der „citizens“ nur in Ausnahmefällen wirklich überprüft hat. Hier wird meist eine Information hinzugedichtet, die im Original nicht vorhanden ist. Die Doppelnennung ist daher auch (frei nach Goethe): Dichtung und Wahrheit.
7.) Die Überbetonung des Geschlechts
Der Anspruch der Gendersprachler, alle Geschlechtsidentitäten durch deren Nennung auch sprachlich zu realisieren, hat zwangsläufig eine Sexualisierung der Sprache zur Folge. Dabei kann man sich bereits durch die Doppelnennung einer Dauerpräsenz des weiblichen und des männlichen Sexus unmöglich entziehen. Wollte man die „vielen anderen“ Geschlechter ebenfalls nennen, müsste man auf Ausdrücke wie „Bürgerinnen und Bürger und diversgeschlechtliche Bürger“ zurückgreifen.
Hier werden zu jeder sich bietenden Gelegenheit Geschlechter in den Vordergrund gestellt, in der Regel an Stellen, bei denen es überhaupt nicht um irgendein Geschlecht geht. Genau dadurch ist die Gendersprache, die von ihren Befürwortern als gendergerecht und gendersensibel bezeichnet, in Wahrheit eine geschlechterbetonende Sprache.
8.) Das Problem der „Sprechbarkeit“
„Sprechbarkeit“ als Wort gibt es im Deutschen nicht, zumindest laut Duden. Kein Wunder, denn Sprache ist per se „sprechbar“. Sprache ist nicht nur Schriftsprache, sondern in erster Linie das gesprochene Wort. Letzteres war Sprache seit ihren Anfängen und ist es immer wieder aufs Neue im Kindesalter. Die Gendersprache ist in Teilen jedoch nicht „sprechbar“.
Das Problem taucht u. a. beim glottalen Verschlusslaut, dem sog. Glottisschlag auf. Dieser Laut (Lautschriftsymbol: ʔ [„Fragezeichen“ ohne Punkt]) ist keineswegs nur auf die Gendersprache beschränkt, wo er als Aussprache von Gendersternchen & Co. dient. Ihn gibt es auch im Deutschen (z. B. Rührʔei, Erdʔöl, Ukraʔine). Durch das vermehrte Auftreten dieses „Knacklauts“ durch die Gendersprache ist für die „Sprechbarkeit“ des Deutschen noch kein Schaden entstanden.
Das Problem liegt vielmehr in der Hörbarkeit und damit in der Unterscheidbarkeit. „Rührʔei“, „Erdʔöl“ oder „Ukraʔine“ kann ich auch ohne die Aussprache des Glottisschlags („Rührei“, „Erdöl“ oder „Ukraine“) sicher als die betreffenden, gemeinten Begriffe identifizieren. Selbst bei „Rührei“ (ohne „ʔ“) ist die Unterscheidung möglich, da dieser Begriff ohne Aussprache des „ʔ“ kaum verstanden wird.
Anders ist es mit „Bürgerinnen“ und „Bürger*[ʔ]innen“. Beide Begriffe werden als solche verstanden, haben aber grundverschiedene Bedeutungen. Sobald das „ʔ“ unsauber ausgesprochen oder überhört wird, führt das zwangsläufig zu Missverständnissen. „Bürger*[ʔ]innen“ ist eben nicht das Ergebnis einer natürlichen Sprachentwicklung.
Im Singular tritt auch hier das Genus-Problem auf, auch mit Auswirkungen auf die „Sprechbarkeit“. Dazu als Beispiele:
„Der/die Besucher*in hat seinen/ihren Schirm vergessen“,
„Jede*r ist seines/ihres Glückes Schmied*in“,
„Ein*e ausgewiesene*r Expert*e*in“.
Schreiben lassen sich diese Sätze gerade noch, aber wie sieht es mit dem Sprechen aus? Etwa so: „Der die Besucher in hat seinen ihren Schirm vergessen“. Oder: „Jede oder jeder ist seines oder ihres Glückes Schmied oder Schmiedin“. Was einem Deutsch-Muttersprachler noch möglich sein könnte, bringt Nicht-Muttersprachler um den Verstand.
Man kann es natürlich auch so machen wie der ehemalige ZDF-heute-Journal-Moderator Claus Kleber und das Gendersternchen mitsprechen, zum Beispiel: „Gebührenzahlersterncheninnen“. Ich erspare mir einen Kommentar.
9.) Neutralformen und andere Scheren im Wortschatz
Neutralformen sind nur am Rande Systemfehler der Gendersprache, denn sie versuchen, die mit dem Gendern verbundenen Probleme zu umschiffen. Sind sie daher das Mittel der Wahl zur Umsetzung der „gendergerechten“ Sprache?
Meine Antwort lautet: Nein. Da sind zunächst die vielfach verwendeten Partizipialformen. „Studierende“ werden Studenten heute genannt, um nicht immer „Studentinnen und Studenten“ sagen zu müssen. Diese Partizipialformen sind im Deutschen aber dazu da, um im Augenblick stattfindende Handlungen oder deren Gleichzeitigkeit auszudrücken. „Die Zeitung lesend, trinke ich meinen Kaffee“. In diesem Moment bin ich ein Lesender, davor oder danach nur noch ein Leser. Ein „Studierender“ ist ein Student, der gerade studiert, in seiner Kneipe ist er danach vielleicht ein „Trinkender“ und nachts hoffentlich ein „Schlafender“, aber kein Studierender. Genauso wenig können „Autofahrende“ im Stau stehen oder „Mitarbeitende“ gerade die Arbeit niederlegen. Die deutsche Grammatik lässt das nicht zu.
Auch andere „problematische“ Wörter werden vermieden und durch „unproblematische“ oder genderneutrale Begriffe oder Umschreibungen ersetzt. Unter anderem auf der Internetseite Geschickt Gendern wird man fündig:
Abteilungsleiter wird zu ( → ) Abteilungsleitung,
Absender → abgesandt von, …,
Alleskönner → Multitalent, Universalgenie, …,
Ansprechpartner → Ansprechperson, …,
Gewinner → Erster Platz, …,
keiner → niemand,
Lehrer → Lehrperson, Lehrkraft,
Räuberleiter → Steighilfe, Raubleiter, …,
Rednerpult → Redepult und so weiter.
Obwohl es bei den Begriffen gar nicht um Männer geht, sollen diese trotzdem durch „entmannte“ Ausdrücke ersetzt werden. Die Sprache wird dadurch blutleer, technisch und in gewisser Weise steril. Schade um die deutsche Sprache.
10.) Das Regel-Chaos-Problem
Das Problem existiert, weil es neben dem Nicht-Gendern einen Wildwuchs unterschiedlicher Gender-„Regeln“ gibt, die völlig willkürlich und parallel zueinander eingesetzt werden. „Kreatives Gendern“ heißt das euphemistisch. Aber Missverständnisse sind das Ergebnis:
Ich höre „Ärzte“ und überlege:
Sind Männer und/oder Frauen gemeint? (generisches Maskulinum),
sind nur Männer gemeint? (der Sprecher oder Schreiber von „Ärzte“ lehnt das generische Maskulinum ab und verwendet die maskuline Form ausschließlich für biologisch männliche Personen).
Ich höre „Bürgerinnen“ und darf nun rätseln:
Sind nur Frauen gemeint? (Kein Gendern),
sind Frauen und Männer gemeint? (wenn ich den Glottisschlag überhört haben sollte oder wenn es sich um ein generisches Femininum handelt),
sind vielleicht auch nur Männer gemeint? (Spezialfall des generischen Femininums).
Ich höre „Mieterinnen und Vermieter“, was bedeuten könnte,
dass nur von weibliche Mietern und männlichen (oder männlichen und/oder weiblichen) Vermietern die Rede ist (kein Gendern, „Vermieter“ als spezifisches oder generisches Maskulinum), oder
dass sowohl von männlichen und/oder weiblichen Mietern als auch von männlichen und/oder weiblichen Vermietern gesprochen wird („kreatives“, sog. alternierendes Gendern).
Sagt ein Mann: „Wir Mitarbeiterinnen“ (im Deutschlandfunk gehört), dann weiß ich, dass er gerade das generische Femininum verwendet hat. Sagt aber die Deutschlandfunk-Moderatorin Kathrin Büüsker: „Wir Journalistinnen“, beginnt das Rätselraten. Sie könnte als leidenschaftliche Genderin das generische Femininum benutzt haben, dann wären auch männliche Journalisten gemeint. Sie könnte aber auch nur weibliche Personen gemeint haben.
Ich kann einfach nicht wissen, ob mein Gegenüber das generische Maskulinum verwendet oder gerade gendert und welche Genderform er dabei verwendet. Es herrscht das blanke Regel-Chaos.
Wenn Sie jetzt einwenden, dass man bei dem generischen Maskulinum auch nicht weiß, ob von Männern oder Frauen die Rede ist, entgegne ich:
Als das generische Maskulinum noch „Standard“ war, konnte man davon ausgehen, dass jeder es verwendet und auch jeder es versteht. Denn das generische Maskulinum lässt bewusst offen, ob das männliche oder weibliche Geschlecht oder beide gemeint sind, denn es bezeichnet keine biologischen Geschlechter. Darauf kommt es bei seiner Verwendung auch überhaupt nicht an, im Gegensatz zur Gendersprache, bei der es immer um Geschlechter geht.
Das Problem der Falschinterpretation der maskulinen Form ist nämlich nicht „Schuld“ des generischen Maskulinums, sondern vielmehr seiner unregelmäßigen und meist willkürlichen Nicht-Anwendung. Als Empfänger der Botschaft „Ärzte“ kann ich in Zeiten der Gendersprache nicht mehr wissen, ob mein Gegenüber das generische Maskulinum verwendet hat oder eben nicht. DAS ist der Grund für Mehrdeutigkeiten, nicht das generische Maskulinum per se.
Es ist augenfällig, dass das Herumbasteln an einer gewachsenen Sprache ihr austariertes Gefüge empfindlich stört und nur Verwerfungen und Risse in ihrer Architektur hinterlässt. Versuche, die entstehenden Schäden notdürftig zu kitten, bleiben Stückwerk und rufen nur neue Flickstellen hervor. Nichts passt bei dieser Bastelei richtig zusammen. Was bleibt, ist Flickschusterei.
Was folgt daraus?
Wenn es, wie geschildert, aber so ist, dass unsere Sprache mit einer generischen Form (die aus Gründen der Sprachökonomie ein Maskulinum ist) soviel einfacher, eindeutiger, klarer, verständlicher und schöner ist, warum bleiben wir dann nicht beim generischen Maskulinum oder kehren zu ihm zurück?
„Weil das generische Maskulinum mit einem ‚male bias‘ behaftet ist“, höre ich schon die Genderbefürworter einwenden. Diesen „bias“, also die Verschiebung weg von der Gleichverteilung und hin zum biologisch Männlichen nachzuweisen, war der Zweck aller zu diesem Thema gemachten Genderstudien, auf die sich so viele berufen.
Doch diese Studien sich ziemlich umstritten und haben einen recht zweifelhaften wissenschaftlichen Wert. Das generische Maskulinum wurde mit Fragen nach dem Geschlecht in Verbindung gebracht, für die es normalerweise nicht gedacht ist. Es wird ja üblicherweise gerade dann verwendet, wenn es nicht auf das biologische Geschlecht ankommt.
Denken Sie bei dem Satz: „Kannst du mir bitte noch etwas vom Bäcker mitbringen“ etwa an das Geschlecht des Bäckers? Bei Fragen dieser Art sollten sich die Testpersonen entscheiden, ob sie an einen männlichen Bäcker, eine Bäckerin oder beide gedacht haben.
Oder umgekehrt: Woran denken Sie bei „Tatverdächtige“ in folgendem Satz: „Nach dem Überfall wurden mehrere Tatverdächtige festgenommen“?
Ich tippe: hauptsächlich an Männer. Aber warum? „Tatverdächtige“ ist doch vollkommen genderneutral. Auch hier gibt es einen „male bias“, aber überhaupt kein generische Maskulinum! Es ist Ihre Lebenserfahrung, die Sie an Männer denken lässt, nicht das generische Maskulinum.
Man geht nicht zu weit zu behaupten, keinen ‚male bias‘ als Ergebnis der Genderstudien erhalten zu haben, hätte sich wahrscheinlich negativ auf weitere Fördergelder ausgewirkt und wäre sicher nicht das „Wunschergebnis“ gewesen. Das Design, die gesamte Konzeption oder die Wahl der Testpersonen sollten jedenfalls nicht das generische Maskulinum rehabilitieren.1 Darunter leidet das generische Maskulinum bis heute. Auch dürften viele, die die Studien zitieren, diese nie gelesen haben.
Besonders die Doppelnennung setzt dem generischen Maskulinum arg zu, denn dabei steht die maskuline Form ausschließlich für biologisch männliche Personen. Ich habe mehrfach und in einem Leserbrief darauf hingewiesen, dass dadurch im allgemeinen Sprachverständnis, besonders der jüngeren Menschen, die maskuline Form generell, d. h. auch außerhalb der Doppelnennung, als für „biologisch männlich“ stehend gesehen wird.
Selbst das Internet-Portal „Genderleicht“ bekennt, dass sich das Verständnis des generischen Maskulinums durch die Kritik an ihm verändert hat, da es nicht mehr so gut „funktioniert“ („Das generische Maskulinum funktioniert nicht mehr gut, seitdem es so oft und vor allem zu recht [sic!] kritisiert worden ist.“).
Das heißt nichts anderes als: Das generische Maskulinum war früher, als es noch nicht in der Kritik stand, „generischer“ (wurde häufiger, bzw. von mehr Menschen generisch interpretiert) als heute. Dass es heute „nicht mehr so generisch“ verstanden wird, ist maßgeblich auf die Kritik an ihm zurückzuführen. Wenn Schüler heute fast nur noch mit „Schülerinnen und Schüler“ angesprochen werden, darf man sich nicht wundern, dass sie unter „Schüler“ hauptsächlich biologisch männliche Schüler verstehen.
Dazu Folgendes:
Erstens: Das „Nicht-mehr-so-gut-Funktionieren“ ist nicht die „Schuld“ des generischen Maskulinums, sondern kommt daher, dass es nur sporadisch, meist willkürlich, jedenfalls nicht durchgängig verwendet wird, siehe oben. (Formal ist es natürlich immer noch generisch. Diesen Punkt möchte ich festhalten.)
Zweitens: Wenn es also stimmt, dass das Verständnis des generischen Maskulinums beeinflussbar ist durch seinen Gebrauch oder Nicht-Gebrauch, dann lässt sich diese Entwicklung auch wieder umkehren.
Das ist doch mal eine gute Nachricht.
Dazu müssten die Lehrer in den Schulen ihre Schüler wieder mit „Schüler“ ansprechen statt mit „Schülerinnen und Schüler“. Die künftigen Lehrer müssten an den Hochschulen wieder als „Studenten“ statt als „Studierende“ angesprochen werden und auch die Zuschauer und Zuhörer des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als „Zuschauer“ und „Zuhörer“.
Das setzt aber voraus, dass wir uns ehrlich machen und uns eingestehen, dass es in unserer Sprache eine generische Form braucht, einen Sammelbegriff, der alle „Geschlechter“, was auch immer man darunter versteht, einschließt, um einfach, klar und ohne unnötigen Ballast sprechen zu können. Und auch, dass aus sprachökonomischen Gründen sich die maskuline Form dafür am besten eignet. Dazu müsste allerdings u. a. auch der Duden eine Kehrtwende vollziehen und unter der Beschreibung des Arztberufs anstelle des Bildes eines männlichen Arztes das einer Ärztin platzieren. Das wäre wahre intellektuelle Größe.
Wir müssten uns aber vor allem von der Idee verabschieden, unsere Sprache sei ungerecht, aber dies würde ohnehin mit der Rehabilitierung des generischen Maskulinums einhergehen. Zusätzlich zu dem sprachlichen würde sich auch noch ein gesellschaftlicher Gewinn einstellen, der zudem nichts kosten würde, außer den Verlust einiger Genderprofessuren. Und: Die AfD würde wahrscheinlich wieder kleiner werden.
Wenn wir es als Gesellschaft also wollen, können wir wieder einen Konsens darüber erzielen, dass das generische Maskulinum kein biologisches Geschlecht bezeichnet, sondern für ALLE steht. Wir können wieder umkehren, wenn wir wollen. Die Gendersprache hat uns auf einen Holzweg geführt, auch dadurch, dass so viele von uns wie eine Herde Schafe einer gesellschaftsspaltenden Ideologie so unreflektiert hinterhergelaufen sind.
Selbst zu denken statt nachzuplappern, wäre dazu der erste Schritt.
1) Ernst Natt: „Falsch abgebogen – Holzweg Gendersprache“, Kapitel 2.3: Die maskuline Form und woran wir dabei denken, tredition GmbH, Ahrensburg; ISBN: 978-3-347-97108-0
Wegen der politischen Aktivitäten des „X“-Besitzers Elon Musk wird die „Teilen“-Option für dieses Medium nicht mehr angeboten.